Christian Scherg
 
Krisenkommunikation | Reputation | Internet 

Juni 2015

FIFA oder die Reputation einer alten Blechdose

Kommentar zur Reputation der FIFA

Reputation FIFA

Eine alte Dose, eine Tasche, eine Jacke, das genügt. OK, ein Ball als Ersatz für die Dose wäre nicht schlecht und ist meist schnell zur Hand. Und auch fürs zweite Tor finden sich rasch eine leere Sprudelflasche und ein abgebrochener Ast, der in den Boden gesteckt wird. Dann aber kann das Spiel losgehen, denn Mitspieler kommen wie selbstverständlich zusammen. Und eines fehlt ihnen auf keinen Fall: Die FIFA. Und das gilt weltweit, bis in die entlegensten Winkel. Fußball entwickelt überall auf dem Globus seine Faszination, ohne dass es eine Organisation braucht. Fußball hat seine eigene Struktur. Die Basis macht’s. Und ihr genügt im Zweifel das oben beschriebene Minimum aus Ballbehelf und Pfostenersatz.

So gesehen ist das Wirtschaftsimperium Fußball tatsächlich in einer ganz anderen Liga angesiedelt. Hier gelten andere Regeln. Und wie weit diese von der Realität des echten Spiels und der unverfälschten Begeisterung der Spieler und Fans entfernt ist, haben die letzten Wochen eindrucksvoll bewiesen. Der weltweite Fußballverband hat offensichtlich nach Regeln gespielt, die nur schwer oder gar nicht verständlich sind: Aus einem Mannschaftsspiel haben die Funktionäre ein Einzel gemacht, haben ein Spiel angestoßen, bei  dem es nur noch um Gewinn und nicht ums Gewinnen geht. Das Resultat: Eigentor folgt auf Eigentor.

All das wundert nicht und im Grunde hat es auch niemand anders erwartet: Wo immer ein Spiel zum Geschäft wird, gibt es auch Geschäftemacher mit Gewinninteressen, angefangen beim illegalen Glücksspiel über legale Formen schnellen Reichtums bis zum Sport. Irgendwie hat jeder vermutet, dass zumindest der ein oder andere im Verband in die eigene Tasche wirtschaftet. Egal wie. Das Erstaunliche ist aber, dass der ganze Reputationsverlust am eigentlichen Spiel vorbeigeht. Ob wir nun selbst gegen einen Ball treten oder es einfach lieben, zuzuschauen und mitzujubeln, den Spaß lassen wir uns nicht durch eine Dachorganisation vermiesen, die ihren guten Ruf schon lange verspielt hat.

Diese simple Tatsache lehrt zweierlei: Man kann nur etwas verlieren, was man besitzt, das gilt auch für Reputation. Dass sich das Entsetzen und die Enttäuschung der internationalen Fangemeinde in Grenzen halten, ist für die FIFA also ein schlechtes Zeichen  und nicht etwa die Chance für einen Neubeginn. So wie jeder schon vermutet hat, dass Fußball im Hintergrund auch ein dreckiges Geschäft ist, glaubt eh keiner daran, dass da ernsthaft etwas zu retten ist. Diese Lehre ist bitter.

Die andere Lehre aber ist süß: Wir lassen nicht einfach verkaufen, was wir lieben. Denn das Geschäft mit dem Fußball wurde im besten Sinn des Wortes ohne uns gemacht. Die Reputation des Breitensports liegt nicht in den Händen der Verbände und Funktionäre, sondern in denen der Akteure und Fans. Wenn wir jubeln oder trauern, Siege feiern oder uns aufregen, Spiele besuchen oder selber spielen, lebt der gute Ruf des Fußballs authentisch auf. Und dazu braucht es nicht mehr als einen Ball und ein Tor: Pars pro Toto. So ist eine Blechdose mitunter mehr wert als ein ganzer Verband.

Februar 2014

Wir Höhlenmenschen

Wie Suchmaschinen unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit konstruieren

hoehlengleichnis-christian-scherg

Das, was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, worauf wir reagieren, was unser Handeln antreibt und was letzten Endes unser gesamtes Bewusstsein bestimmt, hat mit der Wirklichkeit, wie man sie – gewissermaßen unter naturwissenschaftlich korrekten Laborbedingungen – dokumentieren könnte, herzlich wenig zu tun.

Schon das platonische Höhlengleichnis beschreibt die wahrgenommene Wirklichkeit lediglich als eine Folge von Schatten, die auf eine Wand geworfen werden, ohne dass die Menschen, die diese Schatten beobachten, eine Chance hätten, nachzusehen, wodurch die Schatten denn verursacht wurden. Aufgrund der Tatsache, dass sie gefesselt sind, sehen sie die Welt nicht, wie sie „wirklich“ ist, sondern sie sehen bloße Schatten an einer Wand und müssen denken, dass dies die Wirklichkeit sei. Wollte ihnen jemand, der nicht gefesselt ist, das Gegenteil beweisen, die gefesselten Höhlenmenschen würden es nicht glauben.

Anders ausgedrückt: Uns Menschen fehlt der direkte Zugang zu einer objektiven Realität. Unsere alltägliche Wirklichkeit ist nichts anderes als das Ergebnis der konstruierten und subjektiven Wahrnehmungen eines jeden einzelnen Individuums.

Plato hat dies seinerzeit als Defizit dargestellt. Heute erscheint uns gerade dies als unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren unseres gesamten Bewusstseins. Dafür haben wir mindestens zwei schwer wiegende Gründe.

Der erste Grund: Es gilt derzeit als ausgemacht, dass in jeder Sekunde zehn hoch neun (also eine Milliarde) Bits an Informationen, vermittelt durch unsere fünf Sinne, auf uns einströmen. Gleichzeitig – so heißt es – würden wir gerade mal zehn hoch zwei (einhundert) dieser Informationen tatsächlich verarbeiten, also bewusst wahrnehmen.1

Lassen wir diese Zahlen und ihre Verhältnisse einfach mal unkommentiert stehen, so bleibt doch der Umstand, dass das, was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, stets das Ergebnis massiver Selektion ist. Wie könnte es auch anders sein? Wie würde unsere Welt denn aussehen, wenn wir jedes Nebengeräusch, jedes noch so unbedeutende Bild, das am Rande unseres Sichtfeldes auftaucht, jeden Geruch, jeden Windstoß mit derselben Aufmerksamkeit bedenken und verarbeiten würden wie unseren unmittelbaren Gesprächspartner, wie das Bild, das wir auf der Bühne, der Leinwand oder dem Fernsehschirm betrachten, oder wie die belgische Praline, die wir gerade schmecken? Wir würden unrettbar im Wahrnehmungs-Chaos versinken.

Der zweite Grund: Wir wissen heute, dass gewisse Prozesse – bewusste wie auch unterbewusste – uns schon während der Wahrnehmung dabei helfen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, also die sprichwörtliche Spreu vom Weizen zu trennen. Dadurch ermöglichen uns diese Prozesse, dass wir uns überhaupt in dieser Welt zurechtfinden und gleichzeitig mit unseren Mitmenschen erfolgreich kommunizieren.

Wirklichkeit hat auch immer etwas mit dem gesellschaftlichen Umfeld zu tun, in dem sie wahrgenommen wird. Die Konstruktion von Wirklichkeit erfolgt demnach nicht nur durch das Individuum allein. Vielmehr ist die Entstehung einer „Alltagswelt“ stets auch eine Gruppenleistung. Bei der Konstruktion individueller Weltsichten betrachten diese Individuen die „Wirklichkeit der Alltagswelt als eine Wirklichkeitsordnung“, an der sie sich orientieren.2 

Dies gilt umso mehr in der virtuellen Wirklichkeit des Internet, deren konstituierende Merkmale tatsächlich nur farbige Punkte auf einem Monitor sind: Gerade hier sind wir in besonderem Maße auf eine Wirklichkeitsordnung angewiesen, die es uns überhaupt erst ermöglicht, mit und in der virtuellen Welt zu agieren.

Der Mensch – da besteht allgemeine Einigkeit – ist ein soziales Wesen. Für ein soziales Wesen ist es nun mal von kritischer Bedeutung, innerhalb des sozialen Systems, dem er angehört, akzeptiert zu werden und bestehen zu können. Um dies zu gewährleisten, bestehen soziale Regeln und Verhaltensnormen, die bestimmen, was „richtig“ und was „falsch“ ist.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter verwunderlich, dass wir gelernt haben – oder gar darauf konditioniert sind –, uns auch in unserer Wahrnehmung der Wirklichkeit an dem zu orientieren, was innerhalb unseres sozialen Umfeldes als „normal“ gilt. Damit wird Wirklichkeit zum Ergebnis einer gemeinsamen Anstrengung unserer Clique, unserer Familie, unserer Nachbarschaft oder Dorfgemeinschaft, unseres Kollegenkreises und so fort. Wie aber kommt dieses Ergebnis zustande?

Werfen wir an dieser Stelle kurz einen Blick auf die Parallel-Welt des Internet: Zweifellos ist diese Welt virtuell. Dennoch haben Dinge, die sich hier ereignen, durchaus reale Konsequenzen – und insofern erzeugt auch das Internet eine Realität, in der wir miteinander interagieren. Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied: Während wir in der wirklichen Welt über ein soziales Regelwerk interagieren, das sich über Jahrtausende entwickelt hat, fehlt ein eigenes Regelwerk für diese virtuellen Welt nahezu völlig.

So ist es nur allzu verständlich, wenn wir unser „normales“ soziales Regelwerk in das Internet transferieren – und in den meisten Fällen funktioniert das auch problemlos. Geraten wir in der virtuellen Welt allerdings an Zeitgenossen, die sich nicht an dieses Regelwerk gebunden fühlen, können wir umso schneller zum Opfer werden.

1 Vgl. Klaus Merten: Einführung der Kommunikationswissenschaft, 1999

Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 1980

Dezember 2013

Stalking auf Facebook

Stalking auf Facebook: Virtuelle Vergewaltigung

Stalking auf Facebook

Wer – freiwillig oder unfreiwillig – für inkriminierende Fotos posiert, die womöglich – beispielsweise nach dem Ende einer Beziehung – im Internet gegen ihn selbst verwendet werden können, hat ein Problem: Das Drohpotenzial, das in solchen Bildern liegt, ist nicht zu unterschätzen – gerade in Zeiten der beliebigen digitalen Reproduzierbarkeit.

Dass von den Social-Media-Plattformen eine nicht zu unterschätzende Gefahr ausgeht, belegt ein Fall, der zu Beginn des Jahres 2011 publik wurde: Der 23-jährige Amerikaner George Samuel Bronk bewies, dass man technisch nicht besonders versiert sein muss, um die Accounts von Facebook-Nutzern zu knacken und ungehindert in deren private Social-Network-Profile einzudringen.

Wie das Nachrichtenmagazin berichtete, durchsuchte Bronk bei seinem Stalking auf Facebook zunächst die Profile von weiblichen Nutzern nach den dort angegeben E-Mail-Adressen. Waren diese hinterlegt und einsehbar, benutzte er die Email-Adresse, um sich – als angebliche Profilinhaberin – von Facebook ein neues Passwort zuschicken zu lassen. Die nun folgende Sicherheitsabfrage, die vergesslichen Usern helfen soll, ihr Passwort erst zurückzusetzen und dann zu ändern, konnte Bronk dem Nachrichtenportal zufolge mit Leichtigkeit überwinden. Die nötigen Angaben über das Lieblingsessen, die Lieblingsfarbe oder den Namen des Haustiers lieferten ihm seine Opfer über ihre Angaben in ihren öffentlich einsehbaren Social-Media-Profilen frei Haus mit.

Nachdem sich der 23-jährige mit dem neuen Passwort dann Zugang zu den nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmten Bereichen der Profile seiner Opfer verschafft hatte, konnte er sich dort in aller Ruhe umschauen. Unter anderem fand er bei seinem Stalking auf Facebook unter den hochgeladenen Dateien das ein oder andere Nacktbild oder inkriminierendes Videomaterial. Dieses schickte er seinen Opfern und deren sämtlichen Kontakten anschließend per E-Mail – einige erpresste er sogar mit dem intimen Bildmaterial. Per Online-Chat drohte er einem Opfer, das Bildmaterial ins Internet zu stellen, wenn es ihm nicht noch weitere freizügige Bilder von sich schicken würde. Das Opfer wusste sich nicht anders zu helfen und ließ sich auf diesen Handel ein.

Als im vergangenen Jahr Bronks Rechner von der Polizei sichergestellt wurde, fanden sich dort 170 Dateien mit mehr oder minder eindeutigem Inhalt. Nachdem die amerikanische Polizei den Fall öffentlich gemacht hatte, berichtet von 46 Frauen, die sich daraufhin als Betroffene bei den Beamten offenbarten. Eine dieser Frauen bezeichnete Bronks Tat, für die er voraussichtlich mit sechs Jahren Haft zu rechnen hat, als „virtuelle Vergewaltigung“.

November 2013

Bewerber googeln

Wenn Personaler Bewerber googeln... Mythos oder Fakt?

Bewerber googeln | Christian Scherg

Im Jahr 2010 startete die Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BzGA) eine Kampagne unter dem Motto „Kenn dein Limit“. Ziel dieser Kampagne war es, Jugendliche auf die Risiken des Alkoholkonsums aufmerksam zu machen und sie dafür zu sensibilisieren, dass der menschliche Kör- per Alkohol nicht in beliebiger Menge verarbeiten kann. So wurde bundesweit ein Motiv plakatiert, das vier attraktive junge Menschen zeigte, die sich offensichtlich einen netten Abend vorgenommen hatten. Zu drei dieser Jugendlichen lieferte das Plakat – quasi vorab – eine Erklärung mit: Der Hinweis, welcher der Hauptfigur galt, lautete: „Er feiert, bis der Arzt kommt, und landet auf der Intensivstation“. Klar und eindeutig. Der jungen Frau am linken Bildrand war der folgende Kommentar gewidmet: „Sie lässt heute noch alle Hemmungen fallen ...“, der durch einen weiteren Kommentar zu einem jungen Mann, der im Hintergrund mit einer Handy-Kamera hantiert, ergänzt wurde: „... Er stellt sie später nackt ins Netz.“

Es war gerade dieser letzte Kommentar, der unabhängig vom eigentlichen Ziel der Kampagne den Nebeneffekt hatte, dass dieses Plakatmotiv die Angst vieler Mitmenschen, im Internet bloßgestellt zu werden, erfolgreich aufgriff und ganz erheblich schürte. Natürlich will niemand im Internet Bilder von sich sehen, die sie oder ihn betrunken, nackt und hemmungslos zeigen. Dennoch ist die Zahl der einer bestimmten Person zuzuordnenden Fotos auf den verschiedenen Social-Media-Plattformen vergleichsweise überschaubar. Deutlich häufiger finden sich dagegen Bilder, die bei ausgelassenen Feiern entstanden sind: Ein Schlafsack und eine Gitarre, womöglich eine Bierflasche sind zweifellos häufiger abgelichtet als Exzesse oder nackte Haut – nichts, was einem jungen Menschen weiter peinlich sein sollte.

Dennoch gab es im Umfeld der BzGA-Kampagne Gerüchte, Erzählungen und auch Presse-Artikel, die in den schrillsten Farben ausmalten, was denn wohl passieren könnte, wenn solche Bilder von der Personalabteilung des Unternehmens, bei dem man sich nach dem Studium um den ersten Job bewirbt, in Facebook gefunden würden.

Hier kann man erst einmal eine gewisse Entwarnung geben. Rückfragen bei den Personalentscheidern großer Unternehmen zeigen: Zum Ersten ist die Recherche nach einzelnen Bewerbern auf den diversen Social-Media-Plattformen derart aufwendig, dass sie sich mit den Mitteln einer normalen Personalabteilung kaum realisieren lässt. Zum Zweiten sind auch Personalentscheider nur Menschen: Menschen, die es durchaus nachvollziehen können, dass ein Schüler oder Student während seiner Ausbildung gelegentlich ausgiebig feiert – und dabei auch schon mal über die Stränge schlägt. Im Gegenteil: Die meisten Unternehmen suchen nur in Ausnahmefällen nach Mitarbeitern, die das Sozialverhalten eines Taschenrechners an den Tag legen.

Dies belegt auch eine Studie, die die Universität Erfurt im Januar 2011 veröffentlichte. Hier wurden Personalverantwortliche befragt, ob und in welchem Maße sie soziale Netzwerke im Internet nutzen, um Näheres über ihre Bewerber herauszufinden. Das Ergebnis wurde recht plakativ formuliert: „Der googlende Personaler ist ein Mythos“, hieß es. Tatsächlich sei man vom gläsernen Bewerber noch weit entfernt, denn zwischen Unternehmensrealität und medialer Präsenz des Themas klaffe eine große Lücke. Nach wie vor verlaufe das klassische Bewerbungsverfahren analog. Geeignete Kandidaten würden, wenn überhaupt, erst zum Ende einer Bewerbungsphase digital „durchleuchtet“. So sei es beispielsweise denkbar, dass es im Fall von mehreren gleich qualifizierten Bewerbern eine Recherche im Internet gebe.

Ein gewisses Restrisiko – selbst beim Berufseinstieg – ist also nicht auszuschließen. Zudem sollte man auch in Betracht ziehen, dass man im Verlauf einer Karriere durchaus in Positionen gelangen kann, die deutlich exponierter sind als der erste Job nach der Ausbildung oder dem Studium. Hier können sich achtlos ins Netz gestellte Informationen durchaus als Fußangel erweisen.

Die gute Nachricht: Am Ende ist für die Anstellung noch immer der persönliche Eindruck ausschlaggebend, so die Forscher der Universität Erfurt.

Oktober 2013

Shitstorm Simulator

Wie man ein Trainingstool für Online Krisenkommunikation entwickelt

Shitstorm Simulator

Shitstorm Simulator: Brenzlige Situation trainieren Piloten in einem Flugsimulator, schwierige Ausweichmanöver übt man in einem Fahrsimulator – aber wenn die Unternehmensreputation ins Trudeln gerät, haben sich die Verantwortlichen auf den Ernstfall – wenn überhaupt – nur theoretisch vorbereitet. In meinen Augen ein absolutes Defizit, welches den Kommunikatoren allerdings durchaus bewußt ist: In  Seminaren und Workshops wurde ich von Unternehmen immer wieder mit ganz konkreten Fragen konfrontiert: Was mache ich, wenn Kunden sich über ein Produkt beschweren? Wie reagiere ich auf NGOs, die auf unserer Facebook-Plattform unwahre Behauptungen über Tierversuche oder pestizitverseuchte Produkte posten? Und wann darf ich Kritik löschen? Dies sind Fragen, auf die man eine Antwort geben kann oder... oder man erlebt es ganz einfach selbst. Man übt die richtige Reaktion, die optimalen Handgriffe, um im Ernstfall adäquat und vor allem schnell handeln zu können. Die Idee des Shitstorm Simulators war geboren und meine Mitarbeiter und ich entschloßen uns, ein solches Trainings-Tool zu programmieren. Und so haben wir es gemacht:

Zuerst haben wir uns die Frage gestellt: Was macht einen Shitstorm Simulator aus? Auf einem künstlichen fremden Kanal Online Krisenkommunikation zu trainieren, hielten meine Mitarbeiter und ich für gänzlich uneffektiv. Schließlich muss es bei einer guten Simulation darum gehen, die Grenzen zwischen Darstellung und Wirklichkeit so stark verschwimmen zu lassen, dass man wirklichen, echten Stress empfindet und sich nicht permanent des Übungsszenarios, in dem man sich befindet, bewußt wird. Eine Prämisse bei der Programmierung war also, den eigenen Kanal der Unternehmen so präzise, wie möglich nachzubilden. Jedes Unternehmen und jede Person sollte die Chance haben, den Shitstorm auf dem "eigenen Kanal" so authentisch wie möglich zu erleben. Natürlich ohne jedes Risiko und ohne nachhaltig einen reputativen Schaden zu nehmen. Wir entwickelten also eine Konfigurationsmaske für das Frontend, mit der sich der Simulator optisch problemlos an jede beliebige Facebook-Präsenz anpassen läßt.

Nachdem die Optik geklärt war, mussten hunderte verschiedene Accounts angelegt und Bots programmiert werden, die jederzeit einsatzfähig sind, um quasi auf Knopfdruck massenhafte Verunglimpfungen, Empörungen und Kommentare ober- und unterhalb der Gürtellinie zu posten. Besonders das Befüllen der Datenbanken mit den entsprechenden verbalen Entgleisungen erforderte eine Menge Kreativität und förderte bei den Mitarbeitern den ein oder anderen wahren Beschimpfungskünstler zu Tage. Bei der Definition von sogenannten Standard-Szenarien standen reale Shitstorms aus der Vergangenheit Pate, die entsprechend nach Branche und Unternehmensgröße geclustert, eine valide und kontinuierlich wachsende Basis für reale Krisenszenarien bilden, die im Shitstorm Simulator eins-zu-eins als Trainingsplatz nachgebildet werden.

Darüberhinaus gibt es noch die Option, individuelle Szenarien zu definieren. Dafür wurde ein entsprechender Katalog erstellt, der in einem speziellen Workshop gemeinsam mit dem Kunden als Leitfaden dient. Dabei werden in einem kreativen Prozeß mögliche Schwachstellen und potentielle zukünftige Krisenthemen mit den Erfahrungen aus der Vergangenheit abgeglichen, um daraus die wichtigsten und wahrscheinlichsten Szenarien herauszuarbeiten.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Ausdehnung des Shitstorm Simulators auf die internen Prozesse innerhalb des jeweiligen Unternehmens. Diese müssen alle Zahnräder präzise ineinandergreifen, um im Ernstfall eine schnelle, angemessene und offline wie online aufeinander abgestimmte Reaktion zu gewährleisten. Bekomme ich von den verantwortlichen Stellen zeitnah die richtigen Informationen? Existiert ein Krisenhandbuch, das die Online und Offline Kommunikation klar regelt? Wie setzt sich das Krisenteam zusammen und kenne ich meine Ansprechpartner?

Neben der fachlichen und praktischen Qualifikation zeigt der Shitstorm Simulator in der Anwendung, dass Stress fraglos auch Spaß machen kann. Schließlich kann man nach dem simulierten Sturm den Rechner einfach ausschalten – ganz ohne reputative Blessuren aber mit viel gewonnener Erfahrung.

Mehr Informationen unter: https://www.shitstormsimulation.de 

September 2013

Shitstorm Beispiele

Shitstorm Beispiele: Eine Liste

Shitstorm Beispiele

Shitstorms gibt es viele. Hier sind in nicht chronologischer Reihenfolge – ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit und Repräsentativität – einige interessante, nachdenkliche, brisante und unterhaltsame Beispiele:

Shitstorm Beispiele | Jamie OliverShitstorm Beispiele 01: Erziehung mit der Schottenmütze

Betroffen: Jamie Oliver

Der Auslöser: Interview mit Jamie Oliver in der BBC Good Food Show. Der Vater von vier Kindern erzählt freimütig über seine außergewöhnlichen Erziehungsmethoden: Weil schlagen mit dem Kochlöffel schon seit einiger Zeit nicht mehr ganz so gern gesehen wird, hat sich der Starkoch ein anderes "Rezept" zur Züchtigung seines Nachwuchses einfallen lassen: Er mischt seiner 12-jährigen Tochter einfach mal ohne ihr Wissen die schärfste Chili der Welt ins Essen.

Der Shitstorm: Eigentlich ist es fast wie immer: Jamie Oliver gibt ein Rezept preis und Tausende kochen – diesmal allerdings vor Wut. Auf Twitter und Facebook gibt es ähnlich viele entrüstete Reaktionen wie die von Oliver als pädagogisches Instrument verfremdete Chili-Schote mit dem Namen "Schottenmütze" (Scotch Bonnet) Schärfe-Einheiten hat. Und das sind auf der Scoville-Skala amtliche 300.000. Chilis brennen auch in Social Media immer zweimal...

Was wir daraus lernen: Nicht jede Anekdote ist lustig – besonders nicht, wenn sie auf Kosten von Schwächeren, Schutzbefohlenen oder – wie hier – Kinder geht. Natürlich muss auch nicht jede Antwort politisch korrekt sein, aber in einer Kochsendung zu erzählen, wie man seine Kinder mit Chilis quält, ist nicht das, was wir von Prominenten erwarten, die für sich in Anspruch nehmen, eine gewisse Vorbildfunktion zu haben. Das ist aber umgekehrt auch der Trugschluß, dem viele Prominente erliegen: Weil sie in der Öffentlichkeit stehen, werden sie zu den unterschiedlichsten Themen befragt – doch nur weil man gut kocht oder exzellent Fußball spielt, muss man sich weder besonders gut mit Wirtschaft, Politik oder – wie hier – mit Pädagogik auskennen. Bescheidenheit, Zurückhaltung und Fokussierung auf das Wesentliche sind Tugenden, die man gerade als Persönlichkeit des öffentlichen Interesses immer wieder bewusst kultivieren muß.

(Bild: www.hoteliermiddleeast.com) 


Shitstorm Beispiele | Barilla

Shitstorm Beispiele 02: Barilla-Chef geht's an die Nudel

Betroffen: Barilla

Der Auslöser: Guido Barilla, Chef des Nudel-Riesen, will auch zukünftig nicht mit homosexuellen Paaren werben.

Der Shitstorm: Die Community findet seine Einstellung nicht besonders "al dente" und reagiert entsprechend: Ein Twitter-Shitstorm entbrennt. Unter dem Motto "dem seine Nudel nehme ich nicht mehr in den Mund" entsorgen entrüstete Schwule und Lesben ihre vollen Barilla-Tüten im Müll und dokumentieren dies auf Social Media ausgiebig. Unter dem Hashtag #boicottabarilla finden sich immer mehr Gleichgesinnte zusammen, so dass sich Guido Barilla schließlich entschuldigt: "Es tut ihm leid, wenn er Gefühle verletzt habe", lautet die Reaktion des Unternehmens.

Was wir daraus lernen: Homophobie und Diskreditierung von Minderheiten hat im Netz (glücklicherweise) keine große Lobby. Bekannte internationale Marken und deren Repräsentanten tun gut daran, sich in Toleranz zu üben und dieses auch klar in den Unternehmensstatuten zu verankern. Gestriges Gedankengut lässt sich (leider) nicht verhindern – dieses zu äußern, schon.


Shitstorm Beispiele | KTVUShitstorm Beispiele 03: Flight 214 und die koreanischen Piloten

Betroffen: Fernsehsender KTVU

Der Auslöser: Nach dem Absturz einer Boing 777 in San Francisco bei dem drei Menschen starben sorgte ein rassistischer Witz für Empörung. Was war passiert? Kurz nach dem Absturz hatte der kalifornische Fernsehsender KTVU neben Fotos des ausgebrannten Flugzeugwracks als erstes die Namen der vermeindlichen koreanischen Piloten veröffentlicht: Sum Ting Wong, Wi Tu Lo, Ho Lee Fuk, Bang Ding Ow. Das entpuppte sich jedoch als übler Scherz. Laut ausgesprochen bilden die Namen einen witzig gemeinten Ablauf des Unfallhergangs: "Something wrong, we too low, holy fuck, bang ding ow" oder auf deutsch: "Etwas läuft falsch, wir sind zu niedrig, heilige Scheiße, bumm, krach, aua."

Der Shitstorm: Um sich vorzustellen, dass der Sturm der Empörung gegen die Verantwortlichen des Fernsehsenders KTVU entsprechend groß war, bedarf es keiner sonderlich großen Phantasie. KTVU entschuldigte sich, indem sie öffentlich vermeldeten, dass sie die Namen im Vorfeld weder laut ausgesprochen, noch sich über die Position des Mitarbeiters bei der US-Behörde für Verkehrssicherheit (NTSB) vergewissert hätten, der ihnen die Namen der Piloten telefonisch  bestätigt hätte. Die NTSB entschuldigte sich ihrerseits später ebenfalls – allerdings mit dem Hinweis, dass nicht abschließend geklärt wäre, auf welcher Seite die Namen entstanden wären.

Was wir daraus lernen: Ja, interne Witze können sehr lustig sein – zumindest solange sie intern bleiben. Mails des Vorstands, ausgelassenes Feiern auf dem letzten Betriebsfest – was eigentlich hinter verschlossenen Türen stattfinden sollte, findet heute nur allzu schnell seinen Weg in die Öffentlichkeit. Ein Mausklick genügt. Gerade große und prozessual-komplexe Unternehmen müssen diesem Umstand mit klaren, rigiden Regeln und hoher Sorgfalt begegnen, wenn sie am Ende nicht in selbstverschuldete Kommunikationskrisen geraten wollen.


Shitstorm Beispiele | Michail GorbatschowShitstorm Beispiele 04: Der (virtuelle) Tod von Michail Gorbatschow

Betroffen: Michail Gorbatschow

Der Auslöser: Die falsche digitale Todesmeldung vom Ableben des ehemaligen Kreml-Chefs sorgte für einen Shitstorm. Allerdings galt der Sturm des Hasses nicht dem Verursacher der Falschmeldung sondern Michail Gorbatschow selbst.

Der Shitstorm: "Wir kommen zu seiner Beerdigung, um auf seinen Sarg zu spucken" – mit solchen Kommentaren machte sich die aufgebrachte russische Seele Luft. Sie zeigen, wie tief der Eindruck in der russischen Gesellschaft verhaftet ist, der 82jährige russiche Staatslenker a.D. hätte  die ehemals "starke" Weltmacht UdSSR in die Bedeutungslosigkeit und den finanziellen Ruin getrieben. Die Postings und Kommentare sind mittlerweile zensiert, gelöscht, verschwunden. Doch der Stachel im Fleisch des russichen Bären eitert weiter...

Was wir daraus lernen: Das Dampfkesselprinzip pfeift uns in diesem Beispiel die Melodie der russischen Nationalhymne. Doch dies ist nur ein Beispiel von vielen: In Social Media werden über einen langen Zeitraum aufgestaute Emotionen sichtbar. Schlagartig und unvermittelt. Entscheider und Politiker sollten diese ernst nehmen und frühzeitig agieren, wenn sich bereits die ersten Symptome zeigen. Das Netz ist ein wichtiger und wirkungsvoller Meinungsindikator, von dem man viel lernen kann.

(Bild: Michail Gorbatschow von Annie Leibovitz (Keystone))


Shitstorm Beispiele | Chef-Ticket Deutsche BahnShitstorm Beispiele 05: Die Deutsche Bahn macht den Shitstorm zur Chef(-Ticket)-Sache

Betroffen: Deutsche Bahn

Der Auslöser: Riesenidee der Deutschen Bahn: Exklusiver Verkauf des sogenannten Chef-Tickets für 25,00 Euro exklusiv über eine eigene Facebook-Seite. Im Grunde nicht schlecht. Hat auch gut funktioniert: Binnen kürzester Zeit waren 8.000 Fans versammelt, die eigentlich nur Eines wollten: Das Chef-Ticket? Nein. Sich und ihren aufgestauten Aggressionen gegen die Bahn  auf der neuen Social Media Präsenz mal so richtig Luft verschaffen. 

Der Shitstorm: Verspätung, ausgefallene Züge, Stuttgart 21, mangelhafte Technik – die Liste der Themen ist lang, das Kommunikationsbedürfnis ist hoch und die Deutsche Bahn völlig überrumpelt. Man schweigt, moderiert nicht, übersieht Fragen und verhält sich defensiv und zeigt: Wir sind vollkommen überfordert. Das Problem: Es gibt Social Media Kanäle der Bahn, aber diese waren zu diesem Zeitpunkt kommunikative Wartegleise. Hier reagierte schlicht niemand. Dass sich alle enttäuschten Bahnfahrer hoffnungsvoll auf den Chef-Ticket-Kanal stürzten, war also eine absolut logische Konsequenz des mangelnden Dialogs, den die Bahn zuvor auf ihren anderen Kanälen geführt hatte. Also wenig überraschend für alle – außer für die Agentur der Deutschen Bahn.

Was wir daraus lernen: Meinung und Kritik sucht sich immer einen Weg. Ignoranz ist auf Dauer keine Lösung, weshalb Unternehmen das Dialogmedium Internet im Allgemeinen und Social Media im Speziellen ernst nehmen sollten. Sie können sich der Auseinandersetzung nicht entziehen, deshalb sollten sie sich ihr proaktiv stellen.


Shitstorm Beispiele | Samsung

Shitstorm Beispiele 06: Es gibt keine dummen Fragen – oder vielleicht doch?

Betroffen: Samsung

Der Auslöser: Die Frage, die sich die Marketingverantwortlichen bei Samsung hatten einfallen lassen, lautete: "Welches elektronische Gerät würdet Ihr auf eine einsame Insel mitnehmen?" Genauso wurde diese dann auch der Community auf der US-amerikanischen Facebookseite gestellt. Ein freies Land verlangt nach freien Antworten und so kam es, wie es kommen musste...

Der Shitstorm: 12.000 Kommentatoren waren sich einig und nocheinmal 45.000 drückten überzeugt den Like-Button mit dem Ergebnis: Das kann nur ein Iphone vom härtesten Konkurrenten Apple sein. Herzlichen Glückwunsch zu dieser gelungenen Aktion (aus Apple Sicht). Dazu kommt: Samsung-Produkte selbst waren im Ranking ganz weit hinten unter ferner liefen.

(Bild: www.allthingsd.com)


Shitstorm Beispiele | ING-DibaShitstorm Beispiele 07: Bei ING-Diba geht es um die Wurst!

Betroffen: ING-DiBa

Der Auslöser: Seit Jahren ist der Basketball-Superstar Dirk Nowitzki Testimonial der ING-Diba Werbekampagne. In einem TV-Spot, der in einer Metzgerei spielt, gab es für den sympathischen Sportler eine Scheibe Wurst mit den Worten: "Damit Du groß und stark wirst." 

Der Shitstorm: Groß und stark wurde anschließend allerdings in erster Linie die Empörung im Netz: Vegetarier und Veganer liefen Sturm und fluteten den Facebook Kanal der Direktbank mit kritischen Postings zum Thema Fleischkonsum. ING-Diba blieb jedoch entspannt und ließ andere reagieren. Das Ergebnis: Viele Kunden solidarisierten sich mit der Direktbank und kritisierten ihrerseits den völlig überzogenen Ton und die harsche Kritik der Fleischwurstgegner. Am Ende blieb ING-Diba Sieger und der Shitstorm wandte sich gegen seine Erzeuger.

(Bild: Copyright ING-Diba)


Shitstorm Beispiele | PrilShitstorm Beispiele 08: Schmeckt lecker nach Hähnchen!

Betroffen: Pril

Der Auslöser: Unter dem Motto "Mein Pril - Mein Stil" hat der Spühlmittelhersteller eine kreative Idee: Soll doch die Internetcommunity die neue Design-Edition gestalten und anschließend darüber abstimmen. Die Macher stellen sich bunte Farben, Blumen und (maximal) ein paar psychedelische Muster vor. Doch es kommt anders: Auf Platz eins landet der krakelige Schriftzug "Schmeckt lecker nach Hähnchen" mit einer Brathähnchenornamentarik auf einem geschmackvollen (shitstorm-)braun. Pril reagiert und bedient sich eines Hintertürchens, das man sich für den Fall der Fälle offengehalten hat: Eine vom Hersteller eingesetzte Jury soll am Ende das Gewinner-Design auswählen. Die Community ist somit raus und Henkel sagt zur Begründung: "Das Design müsse auch Akzeptanz im Handel finden" – ander ausgedrückt: Keine Chance für den Geflügel-Entwurf!

Der Shitstorm: Vorwurf: Manipulation! Die Disqualifikation des Design-Vorschlags kommt mitsamt der Bereinigung einiger anderer Entwürfe bei der Facebook-Community und auf Twitter nicht wirklich gut an. Proteste werden laut, Postings werden von Henkel gelöscht und die Eskalationsspirale dreht sich schneller. So schnell, dass auch dem Designer des Hähnchen-Entwurfs – Peter Breuer, einem Werbetexter – schwindelig wird und er seinen Designvorschlag höchst offiziell zurücknimmt. Für Henkel bleibt die Aktion ein PR-Debakel, bei dem der Spühlmittelhersteller ordentlich "Federn lassen" musste...

(Bild: Copyright Henkel)


Shitstorm Beispiele | KitKat (Nestlé)Shitstorm Beispiele 09: Have a break – Have a shitstorm!

Betroffen: KitKat (Nestlé)

Der Auslöser: 2010 war das Geburtsjahr des Shitstorm-Klassikers schlechthin: Der Fall Nestlé dient noch heute Journalisten, Social Media Experten und Powerpoint-Präsentatoren als Paradebeispiel eines Shitstorms.
Was ist passiert? Stein des Anstoßes war die Kritik von Greenpeace an der Verwendung von Palmöl bei der Produktion des Schokoriegels KitKat und die damit verbundene Zerstörung des Lebensraums der Orang-Utans. Befeuert wurde die Kampagne mit schockierenden Youtube-Videos, in denen u.a. ein junger Mann im Stil der Nestlé-Werbung nicht in einen knackigen Schokoriegel sondern herzhaft in einen blutigen Orang-Utan Finger beißt (siehe Bild).

Der Shitstorm: Das Greenpeace-Video war nur der Auftakt – so richtig los ging der Sturm erst, als Nestlé das Video wegen seiner hohen Verbreitungsgeschwindigkeit verbieten wollte und diverse Fanseiten abgeschaltet und Kommentare gelöscht wurden. Jetzt wurde aus dem strammen Lüftchen eben der Shitstorm, der bis heute als Klassiker vielfach zitiert, dokumentiert und kommentiert wurde. So wie hier.

(Bild: Copyright Greenpeace)


Shitstorm Beispiele | SchleckerShitstorm Beispiele 10: "Bildung" eines Shitstorms

Betroffen: Schlecker

Der Auslöser: Einfache Slogans sind gut zu merken, jeder versteht sie und so richtig viel Bildung braucht man dafür auch nicht. Der 2011 lancierte neue Claim von Schlecker "For You. Vor Ort." ist laut des Unternehmens bewußt so gewählt, weil der durchschnittliche Kunde ein "geringes bis mittleres Bildungsniveau" hat. 

Der Shitstorm: Nachdem der Drogeriediscounter klar gemacht hat, warum der Claim in einem kalauerartigen "Denglisch" (Mischung aus Deutsch und Englisch) verfasst wurde, zeigt die Netzgemeinschaft deutlich, was sie von der "Bildungsoffensive à la Schlecker" hält: Das quantitative Niveau der negativen Kommentare und Postings steigt schnell weit über das vom Unternehmen angenommene Bildungsniveau seiner Kunden hinaus an. Schlecker steht im Zentrum eines veritablen Shitstorms.

(Bild: Copyright Schlecker)


Shitstorm Beispiele | O2Shitstorm Beispiele 11: Wir sind Einzelfall!

Betroffen: O2

Der Auslöser: Ein Blogger übt Kritik an der mangelnden Netzabdeckung des Unternehmens. O2 reagiert prompt: Das ist ein Einzelfall.

Der Shitstorm: Daraufhin startet der Blogger die Aktion "Wir sind Einzelfall". Tausende "Einzelfälle" melden sich darufhin, posten und kommentieren auf einer eigens dafür angelegten Webseite. Auch der Mobilfunkanbieter O2 schreibt schließlich einen Gastbeitrag, räumt ein, dass es sich wohl nicht nur um Einzelfälle handelt und gelobt öffentlich Besserung. Andere Anbieter wie die Deutsche Telekom nutzen den Shitstorm und die eingestandene Netzschwäche des Konkurrenten indessen ihrerseits zur Kundenakquise.


 

August 2013

Digitale Empörung als "Fenster zur Seele"

Digitale Empörung: Was kann man von Kritik lernen, die selbst in der Kritik steht?

Digitale Empörung als Fenster zur Seele

Digitale Empörung, also Kritik, die im Web geäußert wird, ist oftmals alles andere als konstruktiv. Ganz im Gegenteil: Gerade dort, wo viele kritisieren, geht auch vieles unter die Gürtellinie und ist somit laut der meisten "Online-Kritik-Kritiker" für einen ernsthaften Diskurs nicht zu gebrauchen. Allein die hohe Anzahl der Kritiker wird zum medialen Ereignis – die einzelnen Inhalte werden einfach vom Sturm der digitalen Empörung hinweggefegt. Was bleibt, ist ein weiterer digital archivierter Shitstorm, den Social Media Experten dankbar als Worst-Case-Beispiel ihren Powerpointfolien hinzufügen.

Wir haben alle den Satz im Ohr: Man muß aus Kritik lernen. Doch was kann man von Kritik lernen, die selbst in der Kritik steht?

Wenn wir einen Moment lang davon ausgehen, dass wir nicht jeden Regentropfen einzeln – also jedes Argument für sich – betrachten müssen, wenn wir die Großwetterlage bestimmen wollen, dann sollten wir anfangen, die Perspektive zu wechseln – das Ganze zu betrachten. Wir fokussieren nicht auf den einzelnen Kommentar sondern hinterfragen die Tatsache insgesamt, dass ein Sturm der Entrüstung zu diesem Zeitpunkt, zu diesem Thema und mit diesen Beteiligten überhaupt möglich war.

So offenbart uns laut eines Artikels im Spiegel1 die digitale Empörung gegen Gorbatschow eine Menge über die russische Seele. Eine falsche Todesmeldung über den Ex-Präsidenten löst in Rußland eine Welle des Hasses und der Verachtung aus: Gorbatschow soll schuld daran sein, dass die einst so mächtige Sowjetunion untergangen ist. Im ganzen Land wird der 82-Jährige als Handlanger der Amerikaner und politischer Verräter denunziert, der den Tod längst verdient hätte.

Das zeigt, digitale Empörung ist vielfach Ausdruck und Ventil einer aktuellen politischen und gesellschaftlichen Stimmung und mehr noch: Sie kann sozusagen ein direktes "Fenster zur Seele" sein, er kann Mißstände, einen Mangel an Informationen aber auch moralische und emotionale gesellschaftliche Grundhaltungen zu bestimmten Themen offenlegen. Massenhafte digitale Gefühlsausbrüche sind wichtige Indikatoren, die von der Politik aber auch von Unternehmen und Organisationen ernst genommen werden müssen. Sie bilden eine wertvolle Datenbasis zur Einschätzung von zukünftigen kritischen Situationen und sind – entsprechend ausgewertet – ein Seismograph für mögliche neue Beben. 

Wir haben es in Politik und Wirtschaft potenziert durch das World Wide Web viel häufiger mit unzureichend entschärften "Meinungsminen" zu tun, die im Internet miteinander "verdrahtet" werden und durch ihre kumulierte Sprengkraft gewaltige Explosionen auslösen können. Wo genau sie vergraben sind, das zeigt so mancher Shitstorm, wenn er nur genügend Staub aufwirbelt.

Neef, Christian (2013). Russlands Hass auf Gorbatschow: Shitstorm gegen den Totgesagten. URL:  https://www.spiegel.de/politik/ausland/todesmeldung-von-gorbatschow-loest-shitstorm-in-russland-aus-a-915614.html (Stand: 08.08.2013).

Juni 2013

Skandalisierung im Internet

Gedanken zum Online Grimme Preis Gewinn von #aufschrei

aufschrei-christian-scherg

Skandalisierung im Internet: Jetzt hat also Hashtag #aufschrei einen Grimme-Preis bekommen. Begründung der Jury: "Aus dem Netz wanderte das Thema zurück in die etablierten Medien und in die Politik, eine Wirkung, die zuvor noch kein Hashtag in Deutschland hatte".1

Die Analyse ist treffend: Die Kampagne wanderte tatsächlich „zurück“ in die etablierten Medien – also exakt dorthin, wo sie ursprünglich auch herkam. Im nächsten Durchgang wurde das Thema, das unter dem Titel "Der Herrenwitz" aufgrund mangelnder Pointe von vielen für einen Scherz gehalten worden war, mit dankbarer Selbstbestätigung erneut aufgegriffen, um medial gemästet wieder an die breite Öffentlichkeit retourniert zu werden. So funktioniert die Skandalisierung im Internet.

Wir sind also alle Zeugen einer sich selbst verstärkenden Skandalisierungsspirale geworden und weil sich diese so spektakulär um die eigene Achse gedreht hat, gibt es noch einen Preis hinterher.

Der Mechanismus: Nach dem Prinzip „DSDS“ – "Deutschland sucht den Shitstorm", werden "No-Name-News" gecastet, um aus einer von Ihnen in der hauseigenen Medienmühle einen "Star" zu machen. Der Aufhänger ist lasch, die "Stimme", die Brüderle des Sexismus bezichtigte, dünn. Emotionale Hintergrundstories, ein Hashtag-kreischendes Publikum und eine prächtige Show sorgten dafür, dass die Stimme, die hinter dem ersten Aufschrei stand, zwar dünn blieb, aber das Brimborium darumherum genug von der mangelnden Substanz ablenken konnte. Ein "Stern" war geboren.

Das Thema wurde (leider) maximal instrumentalisiert und dafür, dass die, denen wirklich etwas an  dem Kampf gegen Sexismus liegt, den medialen Karren ohne "aufzuschreien" mitgezogen haben, gibt es als Dankeschön den Grimme Preis. Das zeigt: Das Prinzip funktioniert, die nächste Staffel "DSDS" wird nicht lange auf sich warten lassen und der Herrenwitz hat endlich seine Pointe.


Spiegel (2013). Sexismus-Debatte: Twitter-Aktion #aufschrei gewinnt Grimme Online Award. URL:  https://www.spiegel.de/netzwelt/web/gegen-sexismus-twitter-aktion-aufschrei-gewinnt-grimme-online-award-a-907262.html (Stand: 21.06.2013).

April 2013

Krisenkommunikation für Unternehmen

Krisenkommunikation für Unternehmen und ihre Reputation in der Vor-Internet-Ära

Krisenkommunikation Unternehmen

Die Reputation eines Unternehmens entscheidet in hohem Maße über den Wert einer Marke. Und selbst sehr große Marken können schnell beschädigt werden, wenn sie bei der Krisenkommunikation Fehler machen. Wie entscheidend wichtig die Reputation eines Unternehmens ist und wie rasch sie beschädigt werden kann, zeigt ein Beispiel, das noch der Vor-Internet-Ära entstammt.

Im Jahr 1995, also dem Geburtsjahr des Internet – sah sich der internationale Konzern Shell binnen weniger Tage mit einem Problem konfrontiert, dessen Ausmaße sicherlich keiner der Verantwortlichen bei Beginn der Krise auch nur annähernd geahnt hätte. Der Fall „Brent Spar“ steht heute für eine der größten Reputations- und Krisenkommunikationsherausforderung in der Geschichte des Öl-Multis. Die Brent Spar war keine Förderplattform, wie oft geschrieben wurde, sondern vielmehr ein riesiger schwimmender Tank, den der Ölkonzern Shell in der Nordsee rund 190 Kilometer nordöstlich der britischen Shetlandinseln im Atlantik verankert hatte. Sie diente in den Jahren 1976 bis 1991 als Zwischenlager für Rohöl, das aus dem „Brent“-Ölfeld gefördert wurde. Tankschiffe sammelten hier das Rohöl ein und transportierten es zu den Raffinerien auf dem Festland. Die „Brent Spar“ hatte eine Höhe von 140 Metern, einen Durchmesser von 30 Metern, wog 14.500 Tonnen und wurde überflüssig, als neue Pipelines das Rohöl direkt zum Ölterminal Sullom Voe transportieren konnten.

Im Jahr 1995 traf der Shell-Konzern die Entscheidung, die – vergleichsweise kleine – „Brent Spar“ zu entsorgen und sie in einem Tiefseegraben westlich von Irland, dem Rockall-Trog, zu versenken. An diesem Punkt jedoch schaltete sich die Umweltschutzorganisation Greenpeace ein: Sie befürchtete, die „Brent Spar“ könnte zum Präzedenzfall werden und damit die Versenkung weiterer überflüssiger Tank- und Förderplattformen auslösen. Von dieser Sorte gab es im Atlantik sowie in der Nord- und Ostsee seinerzeit ein paar hundert Exemplare– und Greenpeace war der Ansicht, dass Industrieschrott umweltfreundlich entsorgt werden, und nicht einfach irgendwo in den Weiten des Meeres versenkt werden sollte.

Am 30. April 1995 – keine drei Monate nachdem Shell angekündigt hatte – die „Brent Spar“ zu versenken – enterten zwölf Greenpeace-Aktivisten die Tankplattform und besetzten diese. Zeitgleich erklärte Greenpeace unter Berufung auf Shell UK, dass die Plattform rund 100 Tonnen schwermetallhaltige Ölschlämme sowie runde 30 Tonnen schwach radioaktive Salzablagerungen enthalte.

Am 12. Mai 1995 wurde den Besetzern der „Brent Spar“ per Hubschrauber eine einstweilige Verfügung zugestellt, die sie zum sofortigen Verlassen der Plattform aufforderte. Zeitgleich begann Greenpeace Deutschland damit, an Shell-Tankstellen Flugblätter zu verteilen, auf denen die Autofahrer auf die Aktion und ihre Hintergründe aufmerksam gemacht wurden.

Nachdem am 22. Mai 1995 der Versuch, ein Räumkommando per Kran auf die „Brent Spar“ zu bringen, am schlechten Wetter scheiterte, enterten am frühen Morgen des 23. Mai 15 Shell-Mitarbeiter und sechs Polizisten die Plattform und räumen sie. Zeitgleich sprach sich die damalige Umweltministerin, Angela Merkel, öffentlich gegen eine Versenkung der Plattform aus.

Eine weitere Besetzung der „Brent Spar“ Anfang Juni des Jahres wurde zwar abermals rasch beendet, doch auf dem Festland lief die PR-Aktion gegen den Shell-Konzern unvermindert weiter – und fand immer mehr Unterstützer und Sympathisanten auch in anderen europäischen Ländern, allen voran den Nordsee-Anrainern Niederlande und Dänemark.

Die Umsätze der deutschen Shell-Tankstellen, die einen Marktanteil von 13 Prozent hielten, brachen um die Hälfte ein. Am 20. Juni 1995 gab der Shell-Konzern schließlich nach und gab öffentlich bekannt, die „Brent Spar“ nicht versenken, sondern an Land und umweltfreundlich entsorgen zu wollen. Nahezu zeitgleich startete Shell eine Kampagne mit dem Motto „Wir werden uns ändern“.

Ein voller Erfolg für Greenpeace? Nur eingeschränkt, denn am 4. September 1995 sah sich Großbritanniens Greenpeace-Direktor Peter Melchett gezwungen, eine schriftliche Entschuldigung an den britischen Shell-Vorstandschef Chris Fay zu schicken: Zwischenzeitlich (Mitte Juni) hatte Greenpeace nämlich behauptet, auf der „Brent Spar“ hätten sich noch 5.500 Tonnen Rohöl befunden. Diese Behauptung erwies sich im Nachhinein als falsch. Man hatte Messergebnisse falsch bewertet und ungeprüft veröffentlicht. Immerhin: Aufgrund der späten Veröffentlichung hätten diese Aussagen wohl kaum eine Auswirkung auf die längst laufende Kampagne gehabt. Tatsächlich kamen Umweltexperten schon bald zu der Ansicht, der bei einer Versenkung der „Brent Spar“ entstandene Umweltschaden wäre minimal gewesen.

Späte Genugtuung für den Shell-Konzern? Ebenfalls Fehlanzeige: Greenpeace verbucht die Aktion „Brent Spar“ bis heute auf der Erfolgsseite. Nicht ohne gute Gründe, denn im Juli 1998 beschlossen die 15 Teilnehmerstaaten der Oslo-Paris Kommission (OSPAR) zum Schutz des Nordost-Atlantik ein Versenkungsverbot für Ölplattformen.

Nebenbei erwähnt: Bereits im August 1995 erklärte der deutsche Shell-Vorstandschef Peter Duncan, beim „Brent Spar“ Konflikt habe es sich in erster Linie um ein Kommunikationsproblem gehandelt.

Februar 2013

Virale Meinungsbildung im Internet

Virale Meinungsbildung im Internet: "4chan/b/" & "Kony 2012"

Virale Meinungsbildung im Internet | Christian Scherg

Virale Meinungsbildung im Internet

Ein Bespiel für die virale politische Meinungsbildung im Internet ist die Plattform „4chan/b/“. Das Online Forum „4chan“ wurde im Jahr 2003 gegründet und bietet derzeit 57 verschiedene Bereiche, auf denen eine Vielzahl unterschiedlicher Themen diskutieren werden: von japanischen Mangas über Automarken, bis hin zu Mode und Fotografie. Von besonderer Bedeutung ist hier das „Random“-Forum, dessen Mitglieder sich nach dem internen Forums-Kürzel „/b/“ selbst gern als „/b/tards“ bezeichnen. 4chan/b/ gilt als Keimzelle der Gruppe „Anonymous“, die ihrerseits als Urheber von Online-Attacken auf MasterCard oder Visa, als Keimzelle des „Project Chanology“, einer Initiative gegen Scientology, aber auch als Auslöser von Angriffen auf private Facebook-Seiten oder die Spiele-Plattform „Habbo Hotel“ gilt.

Dieses öffentliche Forum wird von einer enorm hohen Zahl von Anwendern aus aller Welt frequentiert. Es steht jedem Anwender frei, sich unter einem Pseudonym anzumelden oder seine Beiträge anonym zu posten. Im letzteren Fall vergibt das Forum automatisch das Pseudonym „Anonymous“ – was schließlich der Anonymous-Bewegung den Namen gab.

Diese Rahmenbedingungen machen 4chan/b/ zu einer Petrischale zur Beobachtung der viralen Meinungsbildung im Internet: Hier formierte sich die Online-Unterstützung des „arabischen Frühlings“, hier fanden sich die Unterstützer von „Wikileaks“ zusammen und hier erfuhr die Occupy-Bewegung erste Unterstützung. Ausschlaggebend für positive wie auch destruktive Aktionen ist immer wieder der gleiche Vorgang: Ein Anwender stellt einen Vorschlag in den virtuellen Raum und wartet ab, wie andere reagieren. Oft sind dies auch Vorschläge, einen bestimmten Facebook-Account zu hacken und mit diffamierenden Inhalten zu überfluten. Motivation ist meist Rache oder persönliche Animosität. Die meisten Vorschläge werden von der Community in der Regel abgelehnt - allerdings kann es auch passieren, dass eine solche Idee von anderen „/b/tards“ positiv aufgenommen wird. In einem solchen Fall erfolgt die Attacke nahezu unmittelbar und ist von enormer Schlagkraft, denn die Mehrzahl der /b/tards verfügt über die erforderlichen Kenntnisse, die nötige Ausrüstung und über die nötige Zeit.

Kaum anders funktioniert die politische Meinungsbildung auf 4chan/b/: Das Forum bietet keine sichtbaren Strukturen oder Hierarchien die überwiegende Mehrzahl der Teilnehmer agiert unter dem Standard-Pseudonym „Anonymous“. Ausschlaggebend für diese virale Willensbildung ist lediglich die Frage, ob ein Vorschlag die kritische Masse von Unterstützern findet. Dies ist wiederum abhängig von der „Fortpflanzungs und Widerstandsfähigkeit“ einer Idee und den vielfach stark emotionalen und persönlichen Argumenten, die diese befeuern. Die kritische Instanz, die über Erfolg oder Misserfolg einer Initiative auf 4chan/b/ entscheidet, ist die Größe einer anonymen Masse, die auf individuelle Stimuli reagiert – der sogenannte „Hive Mind“, oder die „Schwarm-Intelligenz“.

Lernfähige Schwarm-Intelligenz

Dass dieser Schwarm nicht statisch agiert, sondern sich permanent in Bewegung befindet und in der Lage ist, sich weiterzuentwickeln, sich kritisch zu reflektieren und zu lernen, zeigt das Beispiel „Kony 2012“.

Am 5. März 2012 stellte die Organisation „Invisible Children“ einen 30minütigen Film auf der Video- Plattform YouTube ein. Ziel der Aktion „Kony 2012“, deren Flaggschiff das Medium Video ist, war es, den international zur Fahndung ausgeschriebenen ugandischen Warlord Josef Kony, selbsternannter Anführer der „Lord's Resistance Army“, möglichst noch im Jahr 2012 der Justiz zuzuführen. Ziel war es also nicht, bislang unbekannte Missstände anzuprangern: Der Fall Kony war bekannt und es bestand allgemeiner Konsens.

Ziel war es vielmehr, möglichst viele Menschen zu mobilisieren, um die gewählten Volksvertreter an ihre Versprechen zu erinnern. Die virale Verbreitung des Kony-2012-Videos erfolgte primär über Facebook und war extrem erfolgreich: Schon am Vormittag des 9. März 2012 verzeichnete YouTube rund 50 Millionen Abrufe des Kony-Videos.

Doch der Schwarm erwies sich als lernfähig, denn der Erfolg wurde schon bald zum Bumerang für die „Invisible Children“. Rasch kursierten kritische Artikel über die Aktion „Kony 2012“ und die Online- Community diskutierte die Frage, wie die „Invisible Children“ mit ihren Spendengeldern umging.

Die Katastrophe wurde perfekt, als am 17. März 2012 Meldungen erschienen, dass der Regisseur des Kony- Videos, Jason Russell, in San Diego einen Nervenzusammenbruch erlitten habe, halbnackt durch die Straßen gelaufen sei und schreiend mit den Fäusten auf den Gehweg hämmerte ehe er in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Seither wird die Aktion „Kony 2012“ im Internet auf verschiedene Art und Weise satirisch aufs Korn genommen.

Die Schwarm-Intelligenz hatte sich für wenige Tage auf den professionell inszenierten Hype „Kony 2012“ eingelassen, ließ sich letztlich aber nicht verführen: Nach einer knappen Woche war der Hype als solcher entlarvt.