Christian Scherg
 
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Februar 2014

Wir Höhlenmenschen

Wie Suchmaschinen unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit konstruieren

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Das, was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, worauf wir reagieren, was unser Handeln antreibt und was letzten Endes unser gesamtes Bewusstsein bestimmt, hat mit der Wirklichkeit, wie man sie – gewissermaßen unter naturwissenschaftlich korrekten Laborbedingungen – dokumentieren könnte, herzlich wenig zu tun.

Schon das platonische Höhlengleichnis beschreibt die wahrgenommene Wirklichkeit lediglich als eine Folge von Schatten, die auf eine Wand geworfen werden, ohne dass die Menschen, die diese Schatten beobachten, eine Chance hätten, nachzusehen, wodurch die Schatten denn verursacht wurden. Aufgrund der Tatsache, dass sie gefesselt sind, sehen sie die Welt nicht, wie sie „wirklich“ ist, sondern sie sehen bloße Schatten an einer Wand und müssen denken, dass dies die Wirklichkeit sei. Wollte ihnen jemand, der nicht gefesselt ist, das Gegenteil beweisen, die gefesselten Höhlenmenschen würden es nicht glauben.

Anders ausgedrückt: Uns Menschen fehlt der direkte Zugang zu einer objektiven Realität. Unsere alltägliche Wirklichkeit ist nichts anderes als das Ergebnis der konstruierten und subjektiven Wahrnehmungen eines jeden einzelnen Individuums.

Plato hat dies seinerzeit als Defizit dargestellt. Heute erscheint uns gerade dies als unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren unseres gesamten Bewusstseins. Dafür haben wir mindestens zwei schwer wiegende Gründe.

Der erste Grund: Es gilt derzeit als ausgemacht, dass in jeder Sekunde zehn hoch neun (also eine Milliarde) Bits an Informationen, vermittelt durch unsere fünf Sinne, auf uns einströmen. Gleichzeitig – so heißt es – würden wir gerade mal zehn hoch zwei (einhundert) dieser Informationen tatsächlich verarbeiten, also bewusst wahrnehmen.1

Lassen wir diese Zahlen und ihre Verhältnisse einfach mal unkommentiert stehen, so bleibt doch der Umstand, dass das, was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, stets das Ergebnis massiver Selektion ist. Wie könnte es auch anders sein? Wie würde unsere Welt denn aussehen, wenn wir jedes Nebengeräusch, jedes noch so unbedeutende Bild, das am Rande unseres Sichtfeldes auftaucht, jeden Geruch, jeden Windstoß mit derselben Aufmerksamkeit bedenken und verarbeiten würden wie unseren unmittelbaren Gesprächspartner, wie das Bild, das wir auf der Bühne, der Leinwand oder dem Fernsehschirm betrachten, oder wie die belgische Praline, die wir gerade schmecken? Wir würden unrettbar im Wahrnehmungs-Chaos versinken.

Der zweite Grund: Wir wissen heute, dass gewisse Prozesse – bewusste wie auch unterbewusste – uns schon während der Wahrnehmung dabei helfen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, also die sprichwörtliche Spreu vom Weizen zu trennen. Dadurch ermöglichen uns diese Prozesse, dass wir uns überhaupt in dieser Welt zurechtfinden und gleichzeitig mit unseren Mitmenschen erfolgreich kommunizieren.

Wirklichkeit hat auch immer etwas mit dem gesellschaftlichen Umfeld zu tun, in dem sie wahrgenommen wird. Die Konstruktion von Wirklichkeit erfolgt demnach nicht nur durch das Individuum allein. Vielmehr ist die Entstehung einer „Alltagswelt“ stets auch eine Gruppenleistung. Bei der Konstruktion individueller Weltsichten betrachten diese Individuen die „Wirklichkeit der Alltagswelt als eine Wirklichkeitsordnung“, an der sie sich orientieren.2 

Dies gilt umso mehr in der virtuellen Wirklichkeit des Internet, deren konstituierende Merkmale tatsächlich nur farbige Punkte auf einem Monitor sind: Gerade hier sind wir in besonderem Maße auf eine Wirklichkeitsordnung angewiesen, die es uns überhaupt erst ermöglicht, mit und in der virtuellen Welt zu agieren.

Der Mensch – da besteht allgemeine Einigkeit – ist ein soziales Wesen. Für ein soziales Wesen ist es nun mal von kritischer Bedeutung, innerhalb des sozialen Systems, dem er angehört, akzeptiert zu werden und bestehen zu können. Um dies zu gewährleisten, bestehen soziale Regeln und Verhaltensnormen, die bestimmen, was „richtig“ und was „falsch“ ist.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter verwunderlich, dass wir gelernt haben – oder gar darauf konditioniert sind –, uns auch in unserer Wahrnehmung der Wirklichkeit an dem zu orientieren, was innerhalb unseres sozialen Umfeldes als „normal“ gilt. Damit wird Wirklichkeit zum Ergebnis einer gemeinsamen Anstrengung unserer Clique, unserer Familie, unserer Nachbarschaft oder Dorfgemeinschaft, unseres Kollegenkreises und so fort. Wie aber kommt dieses Ergebnis zustande?

Werfen wir an dieser Stelle kurz einen Blick auf die Parallel-Welt des Internet: Zweifellos ist diese Welt virtuell. Dennoch haben Dinge, die sich hier ereignen, durchaus reale Konsequenzen – und insofern erzeugt auch das Internet eine Realität, in der wir miteinander interagieren. Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied: Während wir in der wirklichen Welt über ein soziales Regelwerk interagieren, das sich über Jahrtausende entwickelt hat, fehlt ein eigenes Regelwerk für diese virtuellen Welt nahezu völlig.

So ist es nur allzu verständlich, wenn wir unser „normales“ soziales Regelwerk in das Internet transferieren – und in den meisten Fällen funktioniert das auch problemlos. Geraten wir in der virtuellen Welt allerdings an Zeitgenossen, die sich nicht an dieses Regelwerk gebunden fühlen, können wir umso schneller zum Opfer werden.

1 Vgl. Klaus Merten: Einführung der Kommunikationswissenschaft, 1999

Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 1980