Christian Scherg
 
Krisenkommunikation | Reputation | Internet 

August 2013

Digitale Empörung als "Fenster zur Seele"

Digitale Empörung: Was kann man von Kritik lernen, die selbst in der Kritik steht?

Digitale Empörung als Fenster zur Seele

Digitale Empörung, also Kritik, die im Web geäußert wird, ist oftmals alles andere als konstruktiv. Ganz im Gegenteil: Gerade dort, wo viele kritisieren, geht auch vieles unter die Gürtellinie und ist somit laut der meisten "Online-Kritik-Kritiker" für einen ernsthaften Diskurs nicht zu gebrauchen. Allein die hohe Anzahl der Kritiker wird zum medialen Ereignis – die einzelnen Inhalte werden einfach vom Sturm der digitalen Empörung hinweggefegt. Was bleibt, ist ein weiterer digital archivierter Shitstorm, den Social Media Experten dankbar als Worst-Case-Beispiel ihren Powerpointfolien hinzufügen.

Wir haben alle den Satz im Ohr: Man muß aus Kritik lernen. Doch was kann man von Kritik lernen, die selbst in der Kritik steht?

Wenn wir einen Moment lang davon ausgehen, dass wir nicht jeden Regentropfen einzeln – also jedes Argument für sich – betrachten müssen, wenn wir die Großwetterlage bestimmen wollen, dann sollten wir anfangen, die Perspektive zu wechseln – das Ganze zu betrachten. Wir fokussieren nicht auf den einzelnen Kommentar sondern hinterfragen die Tatsache insgesamt, dass ein Sturm der Entrüstung zu diesem Zeitpunkt, zu diesem Thema und mit diesen Beteiligten überhaupt möglich war.

So offenbart uns laut eines Artikels im Spiegel1 die digitale Empörung gegen Gorbatschow eine Menge über die russische Seele. Eine falsche Todesmeldung über den Ex-Präsidenten löst in Rußland eine Welle des Hasses und der Verachtung aus: Gorbatschow soll schuld daran sein, dass die einst so mächtige Sowjetunion untergangen ist. Im ganzen Land wird der 82-Jährige als Handlanger der Amerikaner und politischer Verräter denunziert, der den Tod längst verdient hätte.

Das zeigt, digitale Empörung ist vielfach Ausdruck und Ventil einer aktuellen politischen und gesellschaftlichen Stimmung und mehr noch: Sie kann sozusagen ein direktes "Fenster zur Seele" sein, er kann Mißstände, einen Mangel an Informationen aber auch moralische und emotionale gesellschaftliche Grundhaltungen zu bestimmten Themen offenlegen. Massenhafte digitale Gefühlsausbrüche sind wichtige Indikatoren, die von der Politik aber auch von Unternehmen und Organisationen ernst genommen werden müssen. Sie bilden eine wertvolle Datenbasis zur Einschätzung von zukünftigen kritischen Situationen und sind – entsprechend ausgewertet – ein Seismograph für mögliche neue Beben. 

Wir haben es in Politik und Wirtschaft potenziert durch das World Wide Web viel häufiger mit unzureichend entschärften "Meinungsminen" zu tun, die im Internet miteinander "verdrahtet" werden und durch ihre kumulierte Sprengkraft gewaltige Explosionen auslösen können. Wo genau sie vergraben sind, das zeigt so mancher Shitstorm, wenn er nur genügend Staub aufwirbelt.

Neef, Christian (2013). Russlands Hass auf Gorbatschow: Shitstorm gegen den Totgesagten. URL:  https://www.spiegel.de/politik/ausland/todesmeldung-von-gorbatschow-loest-shitstorm-in-russland-aus-a-915614.html (Stand: 08.08.2013).