Virale Meinungsbildung im Internet
Ein Bespiel für die virale politische Meinungsbildung im Internet ist die Plattform „4chan/b/“. Das Online Forum „4chan“ wurde im Jahr 2003 gegründet und bietet derzeit 57 verschiedene Bereiche, auf denen eine Vielzahl unterschiedlicher Themen diskutieren werden: von japanischen Mangas über Automarken, bis hin zu Mode und Fotografie. Von besonderer Bedeutung ist hier das „Random“-Forum, dessen Mitglieder sich nach dem internen Forums-Kürzel „/b/“ selbst gern als „/b/tards“ bezeichnen. 4chan/b/ gilt als Keimzelle der Gruppe „Anonymous“, die ihrerseits als Urheber von Online-Attacken auf MasterCard oder Visa, als Keimzelle des „Project Chanology“, einer Initiative gegen Scientology, aber auch als Auslöser von Angriffen auf private Facebook-Seiten oder die Spiele-Plattform „Habbo Hotel“ gilt.
Dieses öffentliche Forum wird von einer enorm hohen Zahl von Anwendern aus aller Welt frequentiert. Es steht jedem Anwender frei, sich unter einem Pseudonym anzumelden oder seine Beiträge anonym zu posten. Im letzteren Fall vergibt das Forum automatisch das Pseudonym „Anonymous“ – was schließlich der Anonymous-Bewegung den Namen gab.
Diese Rahmenbedingungen machen 4chan/b/ zu einer Petrischale zur Beobachtung der viralen Meinungsbildung im Internet: Hier formierte sich die Online-Unterstützung des „arabischen Frühlings“, hier fanden sich die Unterstützer von „Wikileaks“ zusammen und hier erfuhr die Occupy-Bewegung erste Unterstützung. Ausschlaggebend für positive wie auch destruktive Aktionen ist immer wieder der gleiche Vorgang: Ein Anwender stellt einen Vorschlag in den virtuellen Raum und wartet ab, wie andere reagieren. Oft sind dies auch Vorschläge, einen bestimmten Facebook-Account zu hacken und mit diffamierenden Inhalten zu überfluten. Motivation ist meist Rache oder persönliche Animosität. Die meisten Vorschläge werden von der Community in der Regel abgelehnt - allerdings kann es auch passieren, dass eine solche Idee von anderen „/b/tards“ positiv aufgenommen wird. In einem solchen Fall erfolgt die Attacke nahezu unmittelbar und ist von enormer Schlagkraft, denn die Mehrzahl der /b/tards verfügt über die erforderlichen Kenntnisse, die nötige Ausrüstung und über die nötige Zeit.
Kaum anders funktioniert die politische Meinungsbildung auf 4chan/b/: Das Forum bietet keine sichtbaren Strukturen oder Hierarchien die überwiegende Mehrzahl der Teilnehmer agiert unter dem Standard-Pseudonym „Anonymous“. Ausschlaggebend für diese virale Willensbildung ist lediglich die Frage, ob ein Vorschlag die kritische Masse von Unterstützern findet. Dies ist wiederum abhängig von der „Fortpflanzungs und Widerstandsfähigkeit“ einer Idee und den vielfach stark emotionalen und persönlichen Argumenten, die diese befeuern. Die kritische Instanz, die über Erfolg oder Misserfolg einer Initiative auf 4chan/b/ entscheidet, ist die Größe einer anonymen Masse, die auf individuelle Stimuli reagiert – der sogenannte „Hive Mind“, oder die „Schwarm-Intelligenz“.
Lernfähige Schwarm-Intelligenz
Dass dieser Schwarm nicht statisch agiert, sondern sich permanent in Bewegung befindet und in der Lage ist, sich weiterzuentwickeln, sich kritisch zu reflektieren und zu lernen, zeigt das Beispiel „Kony 2012“.
Am 5. März 2012 stellte die Organisation „Invisible Children“ einen 30minütigen Film auf der Video- Plattform YouTube ein. Ziel der Aktion „Kony 2012“, deren Flaggschiff das Medium Video ist, war es, den international zur Fahndung ausgeschriebenen ugandischen Warlord Josef Kony, selbsternannter Anführer der „Lord's Resistance Army“, möglichst noch im Jahr 2012 der Justiz zuzuführen. Ziel war es also nicht, bislang unbekannte Missstände anzuprangern: Der Fall Kony war bekannt und es bestand allgemeiner Konsens.
Ziel war es vielmehr, möglichst viele Menschen zu mobilisieren, um die gewählten Volksvertreter an ihre Versprechen zu erinnern. Die virale Verbreitung des Kony-2012-Videos erfolgte primär über Facebook und war extrem erfolgreich: Schon am Vormittag des 9. März 2012 verzeichnete YouTube rund 50 Millionen Abrufe des Kony-Videos.
Doch der Schwarm erwies sich als lernfähig, denn der Erfolg wurde schon bald zum Bumerang für die „Invisible Children“. Rasch kursierten kritische Artikel über die Aktion „Kony 2012“ und die Online- Community diskutierte die Frage, wie die „Invisible Children“ mit ihren Spendengeldern umging.
Die Katastrophe wurde perfekt, als am 17. März 2012 Meldungen erschienen, dass der Regisseur des Kony- Videos, Jason Russell, in San Diego einen Nervenzusammenbruch erlitten habe, halbnackt durch die Straßen gelaufen sei und schreiend mit den Fäusten auf den Gehweg hämmerte ehe er in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Seither wird die Aktion „Kony 2012“ im Internet auf verschiedene Art und Weise satirisch aufs Korn genommen.
Die Schwarm-Intelligenz hatte sich für wenige Tage auf den professionell inszenierten Hype „Kony 2012“ eingelassen, ließ sich letztlich aber nicht verführen: Nach einer knappen Woche war der Hype als solcher entlarvt.